Der kleine Garten

Eingereicht von: Marec Béla Steffens (Informationen zum Autor und zur Quellenangabe am Ende des Textes)

Es war einmal ein kleiner Garten, der war ganz aufgeregt. Er sollte heute nämlich zum ersten Mal in den Kindergarten gehen. Das heißt, in den Gartenkindergarten. Ganz aufgeregt machte er sich auf den Weg. Und ganz vorsichtig auch, schließlich wollte er nicht von einem Auto angefahren werden. Früher hatte es nicht so viele Autos gegeben, das hatte ihm sein Großvater erzählt. Damals war es aber auch nicht so einfach gewesen für die kleinen Gärten, auf die Straße zu gehen. Das hatte der Großvater gesagt: damals kam immer irgend so ein Pferd und wollte an einem fressen.

Doch Pferde gab es heute nicht mehr auf den Straßen, und die Autos ließen den kleinen Garten in Ruhe. So kam er in den Gartenkindergarten.Da waren schon andere kleine Gärten, und sie waren alle aufgeregt. Die Kindergartentante nahm sie in Empfang und schaute, ob auch keiner Unkraut mitgebracht hätte. Dann durften sie miteinander spielen. In der Pause aßen die kleinen Gärten ihre Frühstücksbrote. Die hatten sie von zuhause mitgebracht. Zum Nachtisch aßen sie Obst, das hatten sie sowieso meistens dabei. Dann sangen sie ein Lied, "Alle Gärten sind schon da", oder sonst etwas Passendes.

Und was sie so spielten? Einer der kleinen Gärten hatte eine Sandkiste, und dort spielten sie alle sehr gern. Oder sie spielten Fangen und rannten dabei so, dass die Blumen wackelten und die Bäume sich festhalten mussten. Am liebsten aber spielten sie mit der Eisenbahn. Die gab es im Gartenkindergarten, und die kleinen Gärten bauten sie auf und schickten die Züge von einem kleinen Garten in den anderen. Die Kindergartentante paßte auf, dass es keinen Zusammenstoß gab und dass die kleinen Raupen und Käfer an den Bahnübergängen schön warteten, wenn ein Zug kam.

Dem kleinen Garten gefiel der Kindergarten sehr gut, und er ging jetzt jeden Vormittag dorthin. Zuhause mussten sich alle Tiere aber erst daran gewöhnen, dass der kleine Garten so oft nicht da war. Die Katze zum Beispiel konnte sich dann nicht mehr in den Garten legen und nachdenken. Dem kleinen Hündchen fehlte der Garten auch sehr, wenn es etwas Dringendes zu erledigen hatte. Der Kater dagegen schickte den kleinen Garten nur zu gern in den Kindergarten, dann nämlich, wenn er mit dem Rasenmähen an der Reihe war. Und die Ente fand es auch sehr praktisch, dass der kleine Garten dorthin ging. Da konnte sie ihren kleinen Kaczorek, ihren kleinen Enterich, jeden Morgen einfach in den Garten setzen, und so kam der Kaczorek auch in den Kindergarten.

Und einmal wollten die Kindergartenkinder, also die Gartenkindergarten-Gartenkinder, einen Ausflug machen. Und sie überlegten, wohin. Ans Meer vielleicht? Aber das Meer würde sie ganz schön durcheinanderbringen, sagte die Kindergartentante. Sie konnten ja auch alle nicht schwimmen, bis auf den Kaczorek natürlich. In den Zoo vielleicht? Aber dort leben so viele große, schreckliche Tiere, die Pflanzen fressen, und vor denen hatten die kleinen Gärten Angst. Dann auf den Fernsehturm! Nein, sie würden ja nicht in den Lift passen, und die ganzen Stufen hochzulaufen, das wäre ja wirklich zuviel.

So gingen sie also ins Museum. Und zwar in das für Völkerkunde. Sie fuhren mit der Straßenbahn hin, das fanden sie schon sehr aufregend. Nur reichlich eng war es. Die anderen Fahrgäste schimpften ein bißchen, wenn sie Erde auf ihre Schuhe oder auf ihre Hose bekamen. Aber dann durften sie zum Ausgleich ein paar Äpfel oder ein paar Kirschen pflücken und bekamen wieder bessere Laune.

Der Museumswärter ermahnte die kleinen Gärten, nur ja nichts anzufassen. Und er zählte genau nach, wie viele kleine Raupen und Käfer mit den kleinen Gärten mitgekommen waren, denn die mussten auch alle eine Eintrittskarte bekommen. Der Kaczorek natürlich auch.

Die kleinen Gärten spazierten durch alle Säle. Besonders interessierten sie die Räume, in denen gezeigt wurde, mit was für Geräten die Leute in anderen Ländern ihre Felder kitzeln, damit mehr darauf wächst. Die kleinen Gärten nahmen sich vor, manche von diesen Grabstöcken und Hacken im Kindergarten nachzubauen, um einander damit zu kitzeln und um sich am Rücken zu kratzen, wenn es nötig wäre.

In einem der Säle waren Masken aus der Südsee, und die kleinen Gärten fanden sie zuerst ganz gruselig und hatte Angst vor ihnen. Dann aber freundeten sie sich doch mit ihnen an. Sie wollten einige der Masken für ein paar Tage mit nach Hause nehmen und sie vor ihr Gartentor hängen, um den Briefträger ein bißchen zu erschrecken. Aber der Museumswärter sagte, sie dürften die Masken aus der Südsee nicht mitnehmen. Die Masken fanden das ungerecht. Die kleinen Gärten waren zu ihnen zu Besuch gekommen, warum sollten sie den Besuch nicht erwidern dürfen? Sie verabredeten sich, zu warten, bis der Museumswärter wieder einmal Urlaub hätte. Dann würden die Masken zu ihren neuen Freunden kommen.

Für heute verabschiedeten sich die kleinen Gärten. Sie stiegen wieder in die Straßenbahn und fuhren zurück. Unterwegs winkten sie dem Stadtpark zu, das war nämlich ein Verwandter von ihnen.

Müde von dem langen Ausflug kehrten sie nach Hause zurück, und jeder legte sich wieder an seinen Platz - vor das Haus oder dahinter, je nachdem. Auch unser kleiner Garten war ganz müde zurückgekommen. Zu Hause warteten schon alle: die Katze mit einer Erdbeertorte, aber noch ohne Erdbeeren. Der Kater mit einem Buch in der einen Pfote und einer Hängematte in der anderen. Das kleine Hündchen war ganz besonders ungeduldig und hüpfte von zwei Beinen auf die anderen zwei. Und die Ente wollte ihren Kaczorek umarmen, aber - wo war der Kaczorek?

Die Ente schimpfte mit dem kleinen Garten, dass er nicht besser aufgepaßt hatte. Der kleine Garten fing sofort an zu weinen. Der Kater dachte: "Wie praktisch, dann muss ich ihn nicht mehr gießen." Aber das sagte er lieber nicht laut, und dass der Kaczorek nicht da war, machte ihm natürlich auch Sorgen. Die Katze und die Ente machten sich mit dem Hündchen auf den Weg. Das Hündchen schnupperte in allen Straßen nach Spuren von dem Kaczorek. Der Kater aber hängte sich ans Telephon und rief überall an, wo der kleine Kaczorek sein konnte. Im Gartenkindergarten. In den Häusern, wo die anderen kleinen Gärten wohnten. Im Museum. Im Fundbüro von der Straßenbahn. Keine Spur.

Der Kater zog jetzt auch los, um den anderen zu helfen. Zu viert liefen sie kreuz und quer durch die Stadt. Plötzlich sahen sie etwas ganz schnell an sich vorbeirasen. "Das war doch unser kleiner Garten!" riefen sie. "Hinterher, sonst ist der auch noch weg!" So schnell sie noch konnten auf ihren müden Pfoten, rannten sie dem kleinen Garten hinterher. Dem war nämlich etwas eingefallen. Auf dem Rückweg, noch in der Nähe des Museums, hatte die Straßenbahn einmal ganz lange an einer Ampel warten müssen. Dort war eine Buchhandlung, und der Kaczorek hatte so aufgeregt ins Schaufenster geguckt. Und dorthin rannte der kleine Garten jetzt.

Da war aber etwas los! Die große Schaufensterscheibe hatte ein großes Loch, und die Alarmanlage schrie, als hätte man ihr wehgetan. Und dort im Schaufenster war auch der Kaczorek. Er hatte einen spitzen Bleistift bei sich, den hielt er wie ein Ritter seine Lanze. Und er hatte zwar keinen Helm mit Visier, wie ihn die Ritter tragen, aber er trug eine der Südsee-Masken aus dem Museum vor dem Gesicht. Er rief "Attacke!" und stach mit dem Bleistift auf einen Wolf ein, der in einem Buch steckte. "Laß sie los! Laß sie in Ruhe!" rief der Kaczorek.

Und so ließ der Wolf tatsächlich die kleine Ente in Ruhe, die ebenfalls in diesem Buch wohnte. Sie hatte ein rotes Mützchen auf und hieß deshalb Piroska. Sie war ziemlich erleichtert, dass der Kaczorek den Wolf verjagt hatte, und überhaupt gefiel ihr dieser Kaczorek sehr gut. Sie bedankte sich auch höflich bei der Maske aus der Südsee. Als der Kaczorek die Piroska und den Wolf im Schaufenster der Buchhandlung gesehen hatte, war er nämlich gleich ins Museum zurückgelaufen und hatte die Maske gebeten, ganz schnell mitzukommen und ihm bei einer wichtigen Sache zu helfen. Der Museumswärter hatte zum Glück gerade nicht aufgepaßt.

Der kleine Garten war ganz stolz, dass er es war, der den kleinen Kaczorek wiedergefunden hatte. Da würde er morgen im Kindergarten etwas zu erzählen haben. Die Ente schloß ihren Kaczorek in die Flügel und erlaubte ihm, die Piroska mit nach Hause zu nehmen. Die Piroska ging danach auch immer mit in den Gartenkindergarten und erzählte Märchen. Sie kannte sehr viele, weil sie doch in einer Buchhandlung aufgewachsen war. Das Hündchen brachte die Südsee-Maske wieder zurück ins Museum und erschreckte mit ihr unterwegs alle Briefträger. Nur der Kater war nicht so zufrieden. Er musste nämlich die Schaufensterscheibe bezahlen.

Aber dafür hatten sie jetzt eine Piroska. Und später, als der Kaczorek groß geworden war, hatten er und die Piroska selbst einen Kaczorek. Sie nannten ihn Konrad, nach einem Theologieprofessor. Inzwischen ging der kleine Garten natürlich schon lange nicht mehr in den Gartenkindergarten, sondern in die Baumschule. Aber manchmal brachte er doch den kleinen Konrad Kaczorek in den Kindergarten und zeigte ihm, wie man mit der Eisenbahn spielt.

Quelle:
Marec Béla Steffens, "Der Straßenbahnschaffner von Venedig"
Ahlhorn: Geest-Verlag 2001, DM 18,40;
Im Buchhandel zu bestellen unter der Nummer: ISBN 3-934852-55-6
oder portofrei unter www.geest-verlag.de

Weitere Märchen von Marec Béla Steffens enthält sein Buch
Der Kater erzählt Märchen

 Englische Übersetzung


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