Geschichten von See- und Meeresungeheuer

Der wilde und furchtbare Schrei des Nuckelavee

Das gefährlichste und gefürchtetste aller Wasserpferde ist der Nuckelavee. Er lebt an den Meeresküsten Schottlands. Sein Reich liegt unter dem Wasser. Steigt er an Land, so erscheint er in der Gestalt eines ungeheuren Zentauren, eines Pferdemannes. Der Kopf des Nuckelavee gleicht einem Menschenkopf, nur zehnmal größer; sein Maul gleicht dem Maul eines Walfisches und ragt wie ein Schweinerüssel aus seinem Gesicht. Sein Körper ist nackt und hautlos, kein Haar und kein Fell bedeckt ihn.

Viele schreckliche Taten sagt man dem Wasserpferd nach: Wenn der Sturm die Ernte vernichtet oder Mehltau das Korn befällt, wenn das Vieh von den Felsenklippen ins Wasser stürzt oder eine Seuche unter den Rindern und Schafen wütet - das war das Werk des Wasserpferdes. Sein Atem ist giftig, er verpestet das Gemüse in den Gärten. Aber auch zu trockene Sommer, in denen kein Regen fällt und das Land verdörrt, schreibt man dem Wasserpferd zu; denn aus unbekannten Gründen fürchtet es das frische Wasser. Während der Regenzeit hat man das Wasserpferd nie an Land gesehen. Da lebte einst ein alter Mann in Schottland, der war einmal einem Nuckelavee begegnet und nur mit knapper Not entkommen. Er sprach nicht gerne über sein Erlebnis, doch nach langem Bitten erzählte er seine Geschichte:

Tammas, so hieß der Alte, war noch spät in der Nacht unterwegs. Es war Neumond, doch die Nacht war klar und sternenhell. Tammas war auf dem Heimweg, und sein Weg führte nahe dem Meeresufer entlang. Er war schon ein ganzes Stück gegangen. Sein Pfad grenzte nun rechterhand direkt an das Meer, auf der linken Seite aber lag ein tiefer Süßwassersee. Plötzlich sah er eine Gestalt von ungeheurer Größe vor sich, und die Gestalt bewegte sich auf ihn zu.

Was sollte der alte Mann machen? Er war ganz sicher, daß das Wesen, das da unverwandt auf ihn zuschritt, nicht von dieser Erde war. Er konnte zu keiner Seite ausweichen, denn rechts neben seinem Pfad lag das Meer und links der See. Er konnte auch nicht davonrennen, denn er wußte, solchen übernatürlichen Erscheinungen den Rücken zuzuwenden, wäre sehr gefährlich.

Tammas war trotz seines Alters als ein furchtloser, rauhbeiniger Draufgänger bekannt. Er sagte sich: "Der Herr im Himmel stehe mir bei und beschütze mich, denn mir steht Schlimmes bevor!" und nahm all seinen Mut zusammen. Mit festen, wenn auch sehr langsamen Schritten ging er auf das Ungeheuer zu. Doch wie die Gestalt nun näher kam und sich als schwarze Silhouette vor dem Sternenhimmel deutlich abhob, erkannte Tammas entsetzt, daß es ein Nuckelavee war, ein Wasserpferd. Die untere Hälfte des Ungeheuers glich dem Körper eines großen Pferdes, mit fischähnlichen Flossen an den Schenkeln. An Stelle des Halses saß darauf, wie aus dem Rücken gewachsen, ein riesiger Mann ohne Beine. Seine Arme hingen zu beiden Seiten herunter und reichten beinahe bis auf den Boden. Sein Kopf hatte die Größe eines Strohkorbes, etwa drei Fuß lang und breit im Durchmesser. Aus seinem Maul, weit wie das Maul eines Walfisches, fuhr sein Atem wie der Dampf aus einem Brauereikessel. Dieser ungeheure Kopf, mit einem einzigen, rotglühenden Auge auf der Stirn, rollte unablässig von einer Seite zur anderen, als wolle er herunterfallen. Was aber Tammas am meisten entsetzte, war der Anblick seines hautlosen Körpers. Der ganze Körper war rotes, rohes Fleisch. Tammas sah das Blut, schwarz wie Teer, durch gelbe Adern rinnen und starke, weiße Sehnen, dick wie Haltestricke, die sich bei jeder Bewegung des Wasserpferdes krümmten und streckten und wieder zusammenzogen.

Langsam, ganz langsam ging Tammas näher. Sein Haar stand zu Berge, seine Beine waren schwer wie Eisklumpen, und aus jeder Pore lief ihm kalter Schweiß. Tammas hatte Todesangst. Und doch wußte er, es war sinnlos zu fliehen. Er sagte sich: "Wenn ich nun sterben muß, so will ich lieber dem Feind in die Augen sehen, als rücklings ermordet werden." Trotz seiner Angst kam Tammas ein alter Spruch in den Sinn: "Wasserpferde fürchten das Süßwasser", und er hielt sich an jene Seite des Weges, die an dem Binnensee entlangführte. Der alte Mann näherte sich dem Wasserpferd, das Wasserpferd näherte sich dem alten Manne, und der gefürchtete Augenblick kam: Tammas und der Nuckelavee standen sich gegenüber. Über Tammas Kopf schwebte das Haupt des Wasserpferdes. Sein Maul war weit aufgerissen, und sein Rachen war ein bodenloser Abgrund. Tammas spürte seinen heißen Atem, er brannte wie Feuer auf seinem Gesicht. Die langen Arme streckten sich aus, die hautlosen, knochigen Finger spreizten sich, um den unglücklichen Mann zu packen. Tammas versuchte, dem Griff der Arme auszuweichen. Er sprang zur Seite - an das Ufer des Sees. Er sprang zu weit, rutschte aus und geriet mit seinem linken Fuß in das Wasser. Das Wasser spritzte auf, spritzte an die Vorderbeine des Ungeheuers. Das Pferd schnaubte, es klang wie Donnergrollen, und flüchtete zum Meer. Tammas spürte den Luftzug, als die Pferdehufe über ihn hinwegsetzten und er um Haaresbreite dem Griff der langen Arme entging. Doch nun erkannte Tammas seine Gelegenheit und rannte los. Er rannte so schnell er konnte.

Das Wasserpferd wendete, galoppierte hinter Tammas her und brüllte wie das Meer unter dem Wintersturm.

Vor Tammas, ein ziemliches Stück Weg entfernt, floß ein Bach; der Bach lief durch den See und trug sein überschüssiges Wasser zum Meer.

Ich muß den Bach erreichen, dachte Tammas und rannte, fließendes Wasser schreckt die Wasserpferde! Ich muß den Bach erreichen! Er hetzte mit letzter Kraft darauf zu. Zwei, drei Schritte trennten ihn noch von dem Ufer des Rinnsals, da spürte er den heißen Atem in seinem Rücken: der Nuckelavee hatte aufgeholt. Er streckte seine langen Arme aus, schon griffen seine Hände nach ihm - Tammas machte einen Riesensatz und sprang über den Bach.

Der Nuckelavee stand am jenseitigen Ufer, Tammas Mütze in den knochigen Fingern, und er stieß einen gellenden Schrei aus, so wild und furchtbar klang sein Schrei, daß die Sterne am stillen Nachthimmel erbebten.

Tammas aber sank auf der sicheren Seite des Baches ohnmächtig zu Boden.

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